Der Staat ist nicht stark, wenn es um gesellschaftliche Integration geht. Der Gesetzgeber taugt nicht zum Retter des Abendlandes. Was die Gesellschaft zusammenhält, muss man klären, bevor Integration zur Pflicht gemacht wird.
Was kann der Gesetzgeber für die Integration der Ausländer in die deutsche Gesellschaft leisten? Die Erwartungen und Versprechen sind groß: ein Pflichtbekenntnis aller Ausländer zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung; vorübergehende Residenzpflichten; die Ausweitung obligatorischer Integrations- und Sprachkurse; die Abhängigkeit der Sozialleistungen von Integrationsbemühungen; die Verlängerung der Schulpflicht für Ausländer ohne Schulabschluss. Von einem Machtwort des Gesetzgebers verspricht man sich dabei nicht nur staatliche Autorität zugunsten der Durchsetzung von Integration, sondern auch inhaltliche Klarheit darüber, um was es bei Integration eigentlich gehen sollte.
Über diesem Füllhorn an Instrumenten und Forderungen wird übersehen, dass sowohl der Autorität als auch dem Aufklärungspotential des Gesetzgebers spezifische Grenzen gezogen sind. Ihr Verlauf ergibt sich auch aus innerrechtlichen Diskursen, die über die Integrationsdebatte weit hinausreichen. Die Kontroversen reichen von der richtigen Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft über die Intensität verfassungsrechtlich zulässiger Integration bis hin zum Kern der Demokratie und der Frage, wer das Staatsvolk ist. Andererseits ist in der Rechtswissenschaft vieles mehrheitlich anerkannt, was außerhalb der „scientific community“ Befremden hervorruft. Diese Irritationen muss man kennen.
Integration in die Gesellschaft ist nicht Integration in den Staat. Beides wird in der öffentlichen Diskussion selten auseinandergehalten, obwohl erst mit der Trennung von Staat und Gesellschaft das Freiheitsversprechen des demokratischen Rechtsstaats eingelöst wird. Das Meinungsspektrum hat zwei extreme Pole: Die einen denken das Verhältnis von Staat und Recht vom Staat her. Sie betonen das Prae des Staates vor der Verfassung, sehen die Verfassung als Zügel, nicht in erster Linie als Legitimationsquelle des Staates und billigen ihm daher auch Befugnisse zu, die nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert sind. Staat und Gesellschaft sind gleichsam vorrechtlich verwoben. Mit diesem Vorverständnis gelangt man leichter zu der Annahme, es gebe von Verfassungs wegen eine individuelle Grundpflicht, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die „Verfassungsdenker“: Wichtige Befugnisse müssen dem Staat in der Verfassung zugewiesen worden sein, sonst darf er sie nicht in Anspruch nehmen. Der Staat ist lediglich Mittel zum Zweck einer gelingenden gesellschaftlichen Ordnung. – Die jeweilige Haltung zur Trennung von Staat und Gesellschaft bestimmt die Auffassung über das verfassungsrechtlich richtige Maß an gesetzgeberischer Intervention. Wer die Trennung relativiert oder ignoriert, hält Interventionen in den Freiheitsraum der Gesellschaft eher für gerechtfertigt. Zugleich basiert diese Haltung auf der Annahme eines Eigenwertes von Staatlichkeit, der auch die Bedeutung des Staatsvolks gegenüber dem Rest der Gesellschaft, den „Untertanen“ (Isensee), aufwertet. Dann aber wird die Integration durch staatliche Teilhaberechte wie Zugang zum öffentlichen Dienst, Wahlrecht und Staatsbürgerschaft auf einmal eine Belohnung für Zugehörigkeit und ist nicht mehr nur ein Mittel zur gesellschaftlichen Integration.
Der Gesetzgeber hat sich auf Instrumente zur Integration von Ausländern, aber nicht auf einen bestimmten Begriff von Integration festgelegt. Der Begriff stammt aus der Migrationssoziologie und ist schon in dieser Disziplin umstritten. Das Recht erbt nicht nur die Begriffsunschärfen der Soziologie, sondern der politische Prozess forciert sie geradezu.
Wenn der Gesetzgeber Integration auf seine Fahnen schreibt, gilt natürlich seine Definition. Allerdings hat der deutsche Gesetzgeber die Integration, die er bezweckt, gar nicht explizit definiert. Seit 2004 wird eine Handvoll Vorschriften im Aufenthaltsgesetz unter dem Titel „Integration“ geführt. Programmatisch heißt es: „Die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland wird gefördert und gefordert“ (Paragraph 43 Absatz 1). Die Integrationskurse sollen wiederum den Ausländern die deutsche Sprache, die Rechtsordnung, die Kultur und die Geschichte in Deutschland erfolgreich vermitteln. Solche Kenntnisse und sprachliche Kompetenzen gelten als Voraussetzung einer Integration. Eine Niederlassungserlaubnis wird darüber hinaus noch von der Achtung der deutschen Rechtsordnung und der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts abhängig gemacht. Integration hieße demnach kundige Orientierung in der Gesellschaft, kein Kollisionskurs mit der Rechtsordnung und finanzielle Selbstständigkeit. Für Befürworter einer Integration mit Tiefgang gibt die Gesetzeslage wenig her.
Dieser dürftige Befund ist keine Anomalie. Der Gesetzgeber muss sich nämlich gar nicht ausdrücklich festlegen, welches Maß an Integration er bezweckt. Es ist ein methodischer Gemeinplatz, dass sich die Ziele eines Gesetzes lediglich durch dessen Auslegung ermitteln lassen müssen. Je detaillierter die Regelungen des Gesetzes sind, desto weniger Auslegungsspielräume bleiben.
Ein Beispiel aus dem Aufenthaltsgesetz: Wer die Integrationskurse erfolgreich durchlaufen hat, kann sich leichter in der Gesellschaft orientieren, erfolgreicher im Berufsleben engagieren und bessere Lebensqualität erreichen. Diese Integrationserfolge dienen dem Einzelnen. Wenn die Kurse auch gegen den Willen der Betroffenen verpflichtend sind, mag dahinter der Wille eines paternalistischen Staates stehen, der schon weiß, was gut für einen integrationsbedürftigen Ausländer ist. Wenn ein Ausländer allerdings nicht nur die Integrationskurse nicht besuchen will, sondern sich auch das dort zu erwerbende Wissen gar nicht erst zunutze machen möchte, weil er überhaupt nicht in Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft treten will, dann müssen Ausländerbehörde und Gericht selbständig den Zweck solcher Pflichten rekonstruieren: Geht es wirklich nur um Orientierungshilfe für den Einzelnen, so dass bei echtem Isolationswillen eine Ausnahme von der Teilnahmepflicht zu machen wäre? Oder soll womöglich die Kommunikationsbereitschaft des Betreffenden durch eine Pflicht, Kommunikationskompetenz zu erwerben, gesteigert werden? Der Gesetzgeber hat mit dem Integrationskurs bloß ein Instrument der Integration normiert, erst in der Auslegung muss das entwickelt werden, was die Gesellschaft umtreibt: Welche Integration wollen wir wirklich?
Eine Umerziehung der Ausländer zu den Werten der deutschen Mehrheitsgesellschaft wäre als gesetzgeberisches Ziel verfassungsrechtlich mehr als fragwürdig. Hier werden grundrechtliche Tabuzonen erreicht. Was einer denkt und meint, bleibt seine Sache. Aus gutem Grund gibt es hierzulande weder Gesinnungsstrafrecht noch Gedankenpolizei. Das ethisch-religiöse Neutralitätsgebot verpflichtet den Staat darauf, in Weltanschauungsfragen keine Überzeugungsarbeit zu leisten. Das wird schwer erträglich, wenn es um Haltungen geht, die Staat und Gesellschaft tragen: Toleranz, Respekt, Solidarität, Achtung von Gleichheit und Pluralismus. Der Staat darf und muss ein Verhalten fordern, das der Achtung von Gleichheit und Pluralismus entspricht, aber die dazugehörige innere Haltung oder ein dementsprechendes „Bekenntnis“ darf er nicht auch verlangen. Pointiert gesprochen, hat der Staat gar keine eigenen Werte. Notgedrungen bleibt ein Mittelweg: Zwar ist der Staat gehalten, gegen Zwangsverheiratung, patriarchalische Strukturen und volksverhetzende Hassprediger vorzugehen, für die subjektive Akzeptanz von individueller Freiheit, Gleichheit und Pluralismus darf er aber lediglich werben. Den Absolutheitsanspruch darf der Staat selbst den Fundamentalisten nicht austreiben – sonst gehörte auch die katholische Kirche verboten. Der Korridor für staatliche Interventionen ist schmal.
Auf den ersten Blick bietet die Schule größere Möglichkeiten einer Einflussnahme, weil das Grundgesetz den staatlichen Erziehungsauftrag vorsieht. Aber in der Literatur ist umstritten, ob und inwieweit nicht nur Wissen vermittelt, sondern Werte anerzogen werden dürfen. Das Neutralitätsgebot wirkt auch in die Schule hinein und verbietet Indoktrination, wenn nicht sogar jedweden „werthaltigen“ Unterricht. Außerdem sind die Eltern berechtigt und sogar verpflichtet, ihre Kinder zu erziehen. Schule und Eltern müssen kooperieren. Das relativiert die Rolle des Staates als Praeceptor in Gewissensfragen. Das gilt erst recht, wenn die Schüler wahlberechtigt beziehungsweise volljährig geworden sind. Jedenfalls darf eine Verlängerung der Schulpflicht von Flüchtlingen ohne Schulabschluss bis zum Alter von 25 Jahren keine Werteerziehung einschließen. Auf einem anderen Blatt steht, dass die schulische Vergesellschaftung auch jenseits des Curriculums einen Gemeinsinn schafft, der sich positiv auf die Gesamtgesellschaft auswirkt.
Unterstellen wir nur einmal, dass die deutsche Gesellschaft in ihrer Mehrheit tatsächlich einem Wertekanon anhängt oder zumindest gemeinsame kulturelle Grundlagen teilt und diese relative Homogenität nicht bloß ein soziales Konstrukt ist. Dann wäre immer noch durchaus unklar, ob die Homogenität der Gesellschaft oder deren kulturelle Grundlagen legitime Schutzgüter sind, die vom Gesetzgeber gegen fremde Sprache und fremde kulturelle Gewohnheiten „verteidigt“ werden dürfen. Die Zuwanderung darf unter diesem Aspekt gesteuert werden. Das Verfassungsrecht erzwingt nicht die Öffnung nach außen. Wenn die Menschen erst einmal im Land sind, werden die Grundrechte virulent. Ein Schutz der Mehrheitsgesellschaft vor innerer Überfremdung dürfte nicht mehr legitim sein, obwohl auch von einem Verfassungsauftrag zum Schutz der nationalen Identität gesprochen wird (Rupert Scholz): Eine Pflege kultureller Tradition ist sicherlich zulässig – Deutschland darf sich, so das Bundesverfassungsgericht, als Kulturnation verstehen -, die Wahrung des Deutschen als Amtssprache ist notwendig, und das Angebot zum Brückenschlag zwischen Parallelgesellschaften bleibt überlebenswichtig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Das kulturelle Fundament darf gepflegt, die Brücke hingegen muss gebaut werden. Legitim ist jedenfalls der Schutz sozialen Friedens, aber unter Wahrung kultureller Differenzen. Die Wahrnehmung und mit ihr die juristische Akzentsetzung sind, je nach politischer Couleur, verschieden: Die einen sehen bereits den sozialen Frieden bedroht, wo andere multikulturelle Vielfalt begrüßen. Der „clash of cultures“ muss ausgehalten werden, wenn er nicht Schamgrenzen und Sicherheitsabstände körperlicher Integrität unterläuft – wobei der Radius der „Komfortzone“ (oder die Reichweite einer Armlänge) wiederum kulturabhängig ist. Der Gesetzgeber taugt nicht zum Retter des Abendlandes.
Die stärkste und zugleich inhaltsärmste Integration läge darin, dass Ausländer lediglich aufgrund der Dauer ihres Aufenthalts deutsche Staatsbürger werden. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, heißt es in Artikel 20 Grundgesetz. Aber wer ist das Volk? Das Demokratieprinzip – diese tragende Säule unseres Gemeinwesens – hat in seinem eigenen Zentrum einen blinden Fleck, mehr noch: ein schwarzes Loch: Ist das Volk bloß ein „Zurechnungssubjekt“, oder steht eine inhaltliche Vorstellung dahinter? Das Bundesverfassungsgericht bezieht Artikel 20 Grundgesetz ausschließlich auf das deutsche Volk. Das Staatsangehörigkeitsrecht wird damit zum Schlüssel – was nicht unumstritten ist, weil auch die (historisch viel ältere) Entkoppelung politischer Rechte von der Staatsangehörigkeit sich unter das Grundgesetz einfügen lassen könnte. Einen Verfassungsauftrag zur Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern, auch wenn sie bereits lange in Deutschland leben, kennt das Gericht nicht. Eine entgegengesetzte Position gibt der Selbstbestimmung mehr Raum: Die Adressaten der Gesetze müssen auch deren Autoren sein. Diese Auffassung hat der Verfassungsrichter Johannes Masing schon vor mehr als zehn Jahren geäußert und die Einbürgerung von lange Zeit in Deutschland unter deutschen Gesetzen lebenden Ausländern zum demokratischen Gebot erhoben. Der Demos der Demokratie ist dann nicht mehr die Nation des Nationalstaats und auch nicht das Kulturvolk des Kulturstaats, sondern eine Rechtsgemeinschaft. Hier werden Konfliktlinien sichtbar, die in Zukunft eine noch größere Rolle spielen werden: die Vereinbarkeit von Demokratie und offener Staatlichkeit.
Was ist die Bilanz der vorstehenden Irritationen? Der Gesetzgeber trägt wenig zur Klärung der Frage bei, welche Integration wir benötigen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass neue Gesetze uns eines Besseren belehren. Die grundlegenden Diskussionen in der Rechtswissenschaft zeigen besonders eines: Der Staat ist nicht stark, wenn es um gesellschaftliche Integration geht. Die Verfassung bietet wenig Orientierung: Wenn nicht einmal die Deutschen eine Pflicht zur Integration trifft, dann erst recht nicht die Ausländer, wäre eine scheinlogische Schlussfolgerung, denn das ist einer derjenigen Sätze, die sich ebenso gut auch umkehren lassen und dennoch einleuchtend erscheinen: Wenn die Ausländer schon keine Pflicht zur Integration trifft, dann sicherlich nicht die Deutschen. Die fehlende Navigation des Erst-recht-Schlusses ist ein Symptom für die Unsicherheit darüber, warum überhaupt das Recht Integration einfordern darf. Sicherlich sind wir nicht nur eine Solidargemeinschaft von Steuerzahlern. Aber was die Gesellschaft zusammenhält, muss man klären und ehrlich aussprechen, bevor Integration zur Pflicht gemacht wird.