Appell an unsere Repräsentanten
Wir wollen nicht darüber reden, dass Neuwahlen den Staat rund 90 Millionen Euro kosten würden, für die man zwei Jahre lang die Bundeszentrale für politische Bildung finanzieren kann. Wir wollen auch nicht darüber reden, dass Deutschland auf internationaler Bühne für weitere Monate eine „lame duck“ sein wird und insbesondere in der Europäischen Union, in der wichtige Weichenstellungen bevorstehen, ihren Führungsanspruch einbüßen könnte. Schließlich soll auch nicht die Rede davon sein, dass derzeit eine bloß geschäftsführende Regierung, deren demokratische Legitimation veraltet ist, durch Sondierungsmarathon und anschließende Hängepartie viel länger im Amt sein wird als irgendeine seit 1949.
Hier geht es darum, dass Neuwahlen kein strategischer Aspekt und keine Verhandlungsmasse sein dürfen. Die Parteien dürfen nicht Neuwahlen als Surrogat für ihre fehlende Kompromissbereitschaft ins Kalkül ziehen. Ja, es entsteht der Eindruck, dass Neuwahlen als Alibi instrumentalisiert werden sollen, damit keine Seite einen Gesichtsverlust erleidet.
Zwar ist es richtig, dass das Grundgesetz die Möglichkeit von Neuwahlen für den Fall einer Minderheitsregierung vorsieht (Artikel 63 Absatz 4 Satz 3), aber eben auch nur die Möglichkeit, die von einer Entscheidung des Bundespräsidenten abhängt. Diese Entscheidung wäre mehr als nur eine Formsache, sie setzt eine inhaltliche Bewertung durch den Bundespräsidenten voraus, die auch der Bedeutung des Parlaments gerecht werden muss. Minderheitsregierungen sind kein verfassungsrechtlicher Betriebsunfall, auch wenn sie politisch instabil sein mögen. Sie sind in erster Linie parteipolitisch instabil. Das Parlament (und damit auch die eine Regierung tragende Mehrheit) setzt sich aber – das muss in Erinnerung gerufen werden – nicht aus Parteien zusammen, sondern aus Parlamentariern, die frei und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Dass es sich in der Wirklichkeit um Parteipolitiker handelt, stellt die Betroffenen in einen Konflikt, den sie mit sich selbst (und mit ihrer Fraktion bzw. Partei) austragen müssen. Die Stabilität macht sich also nicht an dem Gegeneinander parteipolitischer Egoismen, Eitelkeiten oder Erfolgsstrategien fest, sondern an der individuellen Fähigkeit der Parlamentarier, Mehrheitsentscheidungen zu treffen. So gesehen erfährt das Parlament durch die Schwäche der Regierung sogar eine Aufwertung. Die Minderheitsregierung zwingt das Parlament dazu, sein verloren gegangenes Selbstbewusstsein und seine Streitkultur wiederzuentdecken; die Logik der regierungstragenden Mehrheit wird aufgebrochen durch die Mehrheitssuche für konkrete Sachentscheidungen. Wenn die Sachlogik der Parteienbindung Konkurrenz macht, können viele Verkrustungen und Lähmungen gelöst werden: Die Aufhebung des Fraktionszwangs wäre nicht mehr nur den „Sternstunden“ des Parlaments vorbehalten, sondern könnte die Sonne der Demokratie sehen; unpopuläre Entscheidungen wie Renten- und Steuerreformen, klima- und energiepolitische Maßnahmen könnten ohne Angst um Wiederwahl getroffen werden; die zweite Hälfte der Legislaturperiode wäre nicht mehr verschenkt, sondern könnte aktiv gestaltet werden. Der Preis der Minderheitsregierung wäre vor allem außenpolitisch zu zahlen: Für das Ausland wäre man weniger vorausberechenbar. Auch die nationale Wirtschaft schlägt angesichts ihrer Abhängigkeit vom Export Alarm. Wenn dieser Preis zu hoch ist, sollte es Neuwahlen geben.
Den Sündenfall hat im Grunde Helmut Kohl im Dezember 1982 begangen, als er die Vertrauensfrage (Artikel 68 Grundgesetz) für Neuwahlen instrumentalisierte. Damals hatte er eine Mehrheit hinter sich. Die Vertrauensfrage und deren Scheitern waren inszeniert. Das Bundesverfassungsgericht hat den Sündenfall abgesegnet, und Gerhard Schröder hat ihn wiederholt. Das alles war nicht gut, weil es den Wählerwillen wegen einer Inszenierung annullierte. Natürlich kann man sagen, dass echte Minderheitsregierungen vom Grundgesetz nicht erwünscht sind, weil die negativen Erfahrungen mit den kurzlebigen Regierungen der Weimarer Republik eine Kontrastfolie der bundesdeutschen Verfassung bilden. Selbstverständlich kann man anführen, dass der Wählerwille ja wieder – und sogar noch aktueller – zum Zuge kommt. Aber das entspricht nicht der Repräsentativität unserer Demokratie und ist nur ein neuerlicher Beweis dafür, dass das Parlament im Würgegriff der Parteien steht.
Der Bundespräsident hatte vollkommen Recht, als er kraft der Überparteilichkeit seines Amtes die politische Verantwortung aller Beteiligten anmahnte. Jeder der Beteiligten kann sich darauf hinausreden, dass es eben nicht an ihm alleine und nicht einmal an einer Fraktion alleine gelegen hätte. Die Chemie in Jamaika stimmte eben nicht, und bei einem so bunten Spektrum an Parteien war mehr nicht drin. Konsequenzen wird, ja muss dieser Mangel an Kompromissbereitschaft und Regierungsfähigkeit aber haben. Dann kann Volkes Wille auch in anderen grundlegenden Fragen nicht mehr unter Hinweis auf unsere repräsentative Demokratie kategorisch ausgeschlossen werden. Unser Grundgesetz würde durch einen derartigen Bruch mit der bisherigen Staatspraxis (keine Neuwahlen!) plebiszitärer. Die Entscheidung über den Verbleib Deutschlands in der Euro-Zone, in der Europäischen Union, über Krieg und Frieden, über den Solidaritätszuschlag, über den Klimawandel, über eine Obergrenze für Einwanderung – wieso sollten solche grundlegenden Fragen, in denen der Dissens unter den Parteien offenbar so groß ist, dass sie den gewählten Bundestag dafür aufopfern, nicht gleich direkt vom Volk entschieden werden können? Kein Politiker kann sich herausreden, er habe das nicht gewollt. Wer jetzt Neuwahlen anstrebt, hat diesen Verfassungswandel mitverursacht.
Natürlich müssen Koalitionsverhandlungen und Koalitionsvorverhandlungen („Sondierungen“) gründlich geführt werden und dürfen auch scheitern. Aber wie hat es Samuel Beckett formuliert: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ Darum sei hier an die Parlamentarier und auch an die Parteien appelliert: Einigt Euch gefälligst auf eine Regierungskoalition! Und habt dabei keine Angst vor einer Minderheitsregierung!
Der Verfasser ist Professor für Öffentliches Recht an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen.
Ein Kommentar zu „Einigt Euch!“