Die deutsche Demokratie war kein Fertigprodukt der Stunde Null des Grundgesetzes, sondern hat sich entwickelt. Die Entwicklungen in der gesetzgeberischen, politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit waren stärker als die Änderungen des verfassungsrechtlichen Textes. Was sich geändert hat, ohne dass es dem Verfassungstext abgelesen werden kann, ist die Auslegung des Grundgesetzes. Dabei haben sich Auslegungen der im Grundgesetz enthaltenen demokratischen Anforderungen ergeben, die wegen der Entwicklung in Staatspraxis und Verfassungswirklichkeit mittlerweile alternativlos erscheinen. Die Vorfestlegung auf eine bestimmte Auslegung des Demokratieprinzips ist aber verfassungsrechtlich nicht schon deshalb geboten, weil sich die gelebte Demokratie in eine bestimmte Richtung entwickelt hat. Das Grundgesetz lässt für die Konkretisierung der Demokratie mehr Spielräume, als die vermeintlichen Pfadabhängigkeiten der tatsächlichen Zustände suggerieren. Drei demokratische Gewissheiten sollen als Prüfstein dienen: die Repräsentativität der Demokratie, das Ausländerwahlrecht und das Gebot einer ununterbrochenen Legitimationskette. Alle drei Aspekte sind von zentraler Bedeutung für das Demokratieprinzip. Sie prägen die Demokratie, die wir kennen. Es existiert jeweils eine sehr starke Auffassung über das, was die verfassungsrechtlich richtige Auslegung ist. Entgegenstehende Auffassungen haben es schwer, überhaupt gehört zu werden.
Wir meinen, unsere Demokratie zu kennen. Deswegen empfinden wir Änderungen als Verlust. Der Übergang von der westdeutschen Demokratie in die gesamtdeutsche nach der Wiedervereinigung war nicht nur eine große Freude über das Ende der Teilung des Landes, sondern markierte auch den Beginn eines neuen Erfahrungshorizonts. Schlagwortartig-metaphorisch kommt diese Metamorphose im Übergang von der „Bonner Republik“ zur „Berliner Republik“ zum Ausdruck. Die Jahre, die wir kannten, waren vorüber, und neue Zeiten brachen an. Deutschland werde östlicher, protestantischer und linker werden, hieß es schon 1990. Wenn man bedenkt, dass die Demokratie des Grundgesetzes ein westliches Produkt ist, dass die Anfangs-Ära der Bundesrepublik nach dem bekennenden rheinischen Katholiken Adenauer benannt wurde und dass die parteipolitische Landschaft die demokratischen Verfahren und Umgangsformen prägt, dann musste sich die Demokratie durch die Wiedervereinigung wandeln. Das Grundgesetz bildete die neue Weichenstellung nicht ab. Da es nach der Wiedervereinigung nicht zu einer Generalüberholung des Grundgesetzes gekommen ist, blieb auch der wesentliche Bestand der verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Demokratie unverändert. Das – zur Kennzeichnung des Provisoriums 1949 so getaufte – Grundgesetz blieb die Verfassung des wiedervereinigten Deutschland, und das normative Gesicht der Demokratie blieb auch bei 80 Millionen Einwohnern dasselbe.
A. Wandel der Demokratie
Unter der normativen Oberfläche muss sich etwas getan haben. Die Veränderungen, die das Land damals und seither geprägt haben, können nicht ohne Wirkung auf die gelebte Demokratie geblieben sein. Internationalisierung und Globalisierung haben mit dem Ende der in Ost- und Westblock geteilten Welt einen ungeheuren Aufschwung erfahren. Die europäische Integration ist in eine neue Dimension vorgedrungen – die Demokratisierung der Europäischen Union ist selbst zu einer dauerhaften Herausforderung geworden. Die Lebensverhältnisse haben sich in den letzten drei Jahrzehnten stark verändert: Das betrifft das Erwerbsleben, den Strukturwandel in der Arbeitswelt, das Freizeitverhalten, den Umgang mit Medien, die Nutzung neuer technischer Möglichkeiten, die Verteilung der Geschlechterrollen, um nur einige Aspekte zu nennen. Außerdem hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung gewandelt. Während 1990 in Deutschland noch nur rund 5,6 Millionen Ausländer lebten, waren es 2015 rund 7,8 Millionen. Seit 2005 ermöglicht der Mikrozensus auch eine Hochrechnung, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund (also nach 1950 zugewandert oder Nachkommen solcher Zuwanderer) in Deutschland leben. Dies waren im Jahr 2015 rund 20 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen. Jedes dritte Kind unter fünf Jahren hatte einen Migrationshintergrund. Wer im Land lebt und wie die Menschen leben, hat einen unmittelbaren Bezug zur Demokratie.
Demokratie ist alternativlos. Auf der Grundlage unserer Verfassung ist sie unersetzlich. Sie gehört zu dem durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungskern, der selbst gegenüber Änderungen der Verfassung immun sein soll. Tatsächlich überragt die Demokratie das Recht, weil das Volk als Souverän sich überhaupt erst die rechtliche Verfassung gegeben hat. Insofern ist der Schutz des Rechts für die Demokratie nicht mehr als ein Schutz, den der demokratische Souverän gewährt – also Selbstschutz. In ihrer konkreten Gestalt ist unsere Demokratie nicht ohne Alternative. Vielmehr gibt es Spielarten und Eigenheiten, die sich – wenn auch nur gesetzlich oder verfassungsrechtlich – ändern lassen, ohne dass der Kernbereich des Art. 79 Abs. 3 GG berührt wird. Das Alter für die aktive Wahlberechtigung wurde von den Landesgesetzgebern in den letzten Jahren für Landtags- und öfters noch für Kommunalwahlen vielfach auf 16 Jahre herabgesetzt. Daran lässt sich ablesen, dass die „Reife“ für die Wahlentscheidung vermeintlich eher erreicht wird als in früheren Zeiten bzw. dass die frühere Altershürde nicht zwingend war. Jedenfalls spiegelt sich in den gesetzgeberischen Entscheidungen der Wandel gesellschaftlicher Einstellungen wider. Die Fünf-Prozent-Hürde wurde – auf bundesverfassungsgerichtlichen Druck – von den Landesgesetzgebern auf den Prüfstand gestellt und für die Landtagswahlen in einigen Bundesländern, für die Kommunalwahlen noch konsequenter herabgesetzt. Dahinter steht ebenfalls ein anderes Denken als zu früheren Zeiten: Die „Zersplitterung“ der Volksvertretung ist gerade auf kommunaler Ebene ein Abbild pluralistischer Meinungsbildung. Die Drohkulisse der durch Blockadehaltung gelähmten „Weimarer Verhältnisse“ hat ausgedient, die pluralistische Gesellschaft benötigt die Kunst des Kompromisses. Gesellschaftspolitische Leitbilder haben sich gewandelt, schlagen auf die Politik durch und ändern möglicherweise auch die Auslegung verfassungsrechtlicher Maßstäbe.
Staatspraxis, Verfassungswirklichkeit und ein Wandel der Wertvorstellungen können unter besonderen Umständen in eine verfassungsrechtliche Bedeutung hineinwachsen. Solche Entwicklungen werden mit den Begriffen Verfassungsgewohnheitsrecht und Verfassungswandel gekennzeichnet. Gewandelte Anschauungen gerade über die Demokratie im Allgemeinen haben allerdings nicht solche Spuren in der offiziellen Verfassungsauslegung hinterlassen, die einen grundsätzlichen Wandel der verfassungsrechtlichen Vorgaben markieren würden. Das kann daran liegen, dass der Anschauungswandel zu keiner Zeit so radikal war, dass das Verfassungsrecht grundlegend neu interpretiert werden musste. Es kann aber – stattdessen oder in Ergänzung zu diesem ersten Befund – damit zusammenhängen, dass die grundgesetzlichen Vorgaben so elastisch sind, dass sie auch den bisherigen Wandel gesellschaftlicher oder politischer Vorstellungen über das, was Demokratie ist und ausmacht, mitgetragen haben. Einige grundsätzliche Weichenstellungen wurden zu keiner Zeit angerührt: Es gab etwa keine ernstzunehmenden Versuche, die „parlamentarische Demokratie“ zugunsten einer „präsidialen“ aus den Angeln zu heben. Mögliche Ansätze, die Demokratie durch Auslegung verfassungsunmittelbar mit Inhalten anzureichern, wurden gerade auch vom Bundesverfassungsgericht nicht stark gemacht. So ist beispielsweise die (im Grundgesetz nirgends so genannte) „wehrhafte Demokratie“ entgegen ihrer plakativen Formelhaftigkeit keine verfassungsrechtliche Projektionsfläche, um weitere ungeschriebene Regelungsgehalte zu rechtfertigen bzw. zu konstruieren. Vielmehr handelt es sich um eine zusammenfassende Charakterisierung einzelner Verfassungsbestimmungen (u.a. Art. 18 GG, Art. 21 Abs. 2 GG) und einfachgesetzlicher Regelungen (v.a. des Vereinsgesetzes und der §§ 84 ff. StGB). Selbst das „Mehrheitsprinzip“ wird vom Bundesverfassungsgericht als solches nicht aus dem Demokratieprinzip abgeleitet, sondern in den jeweiligen Grundgesetznormen verortet. Mit der Demokratie als Ableitungsgrundlage für weitere ungeschriebene bzw. mitgeschriebene Grundsätze geht das Verfassungsgericht sehr behutsam um. Es herrscht ein gewisser Formalismus vor. Das muss nicht schlecht sein. Zauberformeln oder Parolen sind keine guten Ratgeber für die Auslegung der Verfassung – das ist bei der Demokratie nicht anders als bei den Grundrechten oder anderen Verfassungsbestimmungen.
B. Pfadabhängigkeiten bei der Auslegung des Grundgesetzes
Gleichwohl gibt es bei der Auslegung fundamentaler Grundgesetznormen eine Vorfestgelegtheit, die sich insbesondere damit erklären lässt, dass man es (fast) immer schon so gemacht hat. Grundsätzliche Weichenstellungen des Demokratieprinzips werden in ihrer Einordnung durch die herrschende Meinung verhältnismäßig starr festgelegt, obwohl es jeweils ernstzunehmende Gegenstimmen gibt. Hier haben sich Pfadabhängigkeiten dem Anschein nach wie ein Verfassungswandel ausgewirkt. Aus offenen Formulierungen wurden enge Auslegungen gefiltert.
Drei demokratische Gewissheiten sollen als Prüfstein dienen: der Ausschluss von Volksentscheiden auf der Ebene des Bundes (I.), die Unzulässigkeit eines Ausländerwahlrechts (II.) und das Gebot einer ununterbrochenen Legitimationskette (III.). Alle drei Aspekte sind von zentraler Bedeutung für das Demokratieprinzip. Sie prägen die Demokratie, die wir kennen. Es existiert jeweils eine sehr starke Auffassung über das, was richtig ist. Entgegenstehende Auffassungen haben es schwer, überhaupt gehört zu werden. Die herrschende Auffassung verteidigt einen verfassungsrechtlichen Ausschließlichkeitsanspruch für sich. Die gegenläufigen Auffassungen werden vereinzelt vertreten. Ihre Erwägungen sind so bedenkenswert, dass es begründungsbedürftig erscheint, sie nicht als zulässige Auslegung des Grundgesetzes zu akzeptieren. Das wirft die Frage auf, inwieweit demokratische Alternativen verfassungsrechtlich offenstehen, obwohl sie noch nie oder schon lange nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes realisiert worden sind.
I. Volksentscheide auf Bundesebene
Unsere Demokratie ist repräsentativ. Das entspricht dem einfachgesetzlichen Befund auf Bundesebene. Referenden oder Volksentscheide finden im Bund nicht statt. Die Bundesbürger wählen alle vier Jahre die Abgeordneten des Bundestages. Das Grundgesetz legt sich nicht explizit auf eine repräsentative Demokratie fest, aber aus dem weitgehenden Fehlen plebiszitärer Elemente kann darauf geschlossen werden, dass das Grundgesetz von einem repräsentativen System als Normalfall ausgeht. Es enthält Bestimmungen über die Bundestagswahl (in Art. 38 GG) und ausführliche Regelungen über die Tätigkeit des Bundestages, insbesondere über die parlamentarische Gesetzgebung. Verboten werden Plebiszite auf Bundesebene im Grundgesetz jedenfalls expressis verbis nicht. Die zwei Plebiszite, die das Grundgesetz doch regelt (die Neugliederung des Bundesgebiets, Art. 29 GG, und eine neue Verfassung, Art. 146 GG), werden allerdings als Extrem- und Ausnahmefälle gekennzeichnet, so dass dem Verfassungsgeber unterstellt wird, sie seien abschließend gemeint. Nach dieser Argumentation sind Bundesplebiszite, die nicht ausdrücklich vom Grundgesetz erlaubt werden, grundgesetzlich sogar verboten. Diese ganz überwiegende Auffassung im Schrifttum kann sich zudem auf die Staatspraxis berufen. Es gab noch kein Plebiszit auf Bundesebene. Der Kontrastfolie der Weimarer Reichsverfassung wird in der Argumentation ein großer Stellenwert beigemessen: In Weimar gab es die Möglichkeit zu Volksbegehren und Volksentscheid auch auf Reichsebene. Wenn der Parlamentarische Rat vergleichbare Vorschriften nicht aufgenommen hat, damit es nicht zu Plebisziten auf Bundesebene kommt, stünde jedenfalls der historische Wille des Verfassungsgebers entgegen. Das wäre eine sehr hohe Hürde für eine abweichende Auslegung, aber auch keine unüberwindliche, wie die Zulässigkeit eines Verfassungswandels zeigt. Die Hürde muss aber wohl gar nicht erst genommen werden: Betrachtet man sich die Aussagen der Beteiligten und die historische Ausgangslage zur Zeit der Beratungen über das Grundgesetz, so wurden Volksentscheide nicht grundsätzlich abgelehnt. Theodor Heuss hat sich im Parlamentarischen Rat immerhin kritisch geäußert. Eine Haltung gegen Volksentscheide entsprach allerdings nicht dem Zeitgeist (Hans Meyer). Vielmehr wurden in den sich konstituierenden Ländern vor und nach Inkrafttreten des Grundgesetzes Regelungen für die Durchführung von Volksentscheiden in die neuen Verfassungen aufgenommen. Auch sind Volksentscheide auf Reichsebene kein Grund für das Scheitern der Weimarer Republik gewesen – die drei Volksbegehren scheiterten allesamt am erforderlichen Quorum. Das dürfte den Müttern und Vätern des Grundgesetzes noch deutlich vor Augen gestanden haben, und auch die entstehenden Landesverfassungen nahmen ja plebiszitäre Elemente auf, während ab den 1950er Jahren die angeblich negativen Erfahrungen mit Plebisziten in Weimar als Kontrastfolie für die Interpretation des Grundgesetzes ins Feld geführt wurden. Es ist überhaupt die Frage, wie sehr man mehr oder weniger haltlose Mutmaßungen über die Mentalität der Mütter und Väter des Grundgesetzes zur Richtschnur der Auslegung machen sollte. Die Frage erscheint schlicht offen. Die Nichtaufnahme der allgemeinen Regelungen über die Durchführung eines Volksentscheids muss nicht als Entscheidung gegen Volksentscheide gewertet werden. Das Grundgesetz trifft gerade eine Entscheidung zugunsten von Volksentscheiden, wenn es in Art. 20 Abs. 2 GG statuiert, dass das Volk die Staatsgewalt nicht nur in Wahlen, sondern auch in Abstimmungen ausübt. Das meint zunächst die Bundesebene und nicht (nur) die Länder, denn die werden erst durch Art. 28 Abs. 1 GG an das Demokratieprinzip gebunden. Wenn im Grundgesetz Durchführungsregelungen für Abstimmungen fehlen, ist dies als Auftrag an den Gesetzgeber zu verstehen, das Fehlende zu schaffen (Hans Meyer), und nicht als Ablehnung der ja ausdrücklich zugelassenen Abstimmungen.
Die Zulässigkeit von Volksentscheiden auf Bundesebene ist überhaupt nicht so abwegig, wie es angesichts der Dominanz der Plebiszitgegner scheinen mag. Das Volk ist nicht nur als verfassungsgebende Gewalt (pouvoir constituant) der Souverän, sondern bleibt auch unter der Geltung des Grundgesetzes präsent. Das ist gemeint, wenn Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und dass das Volk sie in Wahlen und Abstimmungen ausübt. Damit werden Plebiszite („Abstimmungen“) als zulässiges Mittel der Äußerung des Volkswillens anerkannt. Angesichts dieser Anerkennung fällt es schwer, noch von einem verfassungsrechtlichen Verbot von Plebisziten auf Bundesebene auszugehen. Warum sollte zusätzlich zu dieser Grundsatznorm nochmals eine verfassungsrechtliche Einladung nötig sein? Denn nichts anderes behauptet, wer einen Verfassungsvorbehalt für Plebiszite annimmt. Das normative „Umfeld“ des Grundgesetzes spricht ebenfalls für eine grundsätzliche Zulässigkeit. Die Rechtslage in den Bundesländern zeichnet sich durch starke Elemente direkter Demokratie aus. Volksentscheide sind in den Landesverfassungen ausdrücklich geregelt. Die Repräsentativität der Demokratie, der von der herrschenden Meinung ein Absolutheitsanspruch für die Bundesebene unterstellt wird, soll nicht Bestandteil des Homogenitätsgebots in Art. 28 GG sein. Damit sind die Bundesländer nicht verpflichtet, ihrerseits plebiszitäre Elemente auszuschließen. Auf der Kommunalebene sind Bürgerentscheide an der Tagesordnung. Landesverfassungen und Gemeindeordnungen regeln ihre Zulässigkeit. Art. 28 Abs. 1 S. 4 GG erlaubt sogar die Herrschaft der Gemeindeversammlung anstelle einer gewählten Körperschaft. Angesichts dessen ist die Rigidität der herrschenden Meinung verwunderlich. Sie beruht auf einer Gleichsetzung der Staatspraxis mit Verfassungsrecht. Doch gibt es keine rechtliche Notwendigkeit für eine solche Gleichsetzung.
Man mag einwenden, dass die Politiker ihre Verantwortung auf die Bürger delegieren könnten. Von den Bürgern kommt die Legitimation allerdings, somit kann schlecht von einer Delegation von Verantwortung gesprochen werden. Das Parlament ist gerade den Bürgern verantwortlich. Die demokratische Legitimation des Bundestags würde auch nicht entwertet werden, man erkennt vielmehr den besonderen Wert an, den die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk hat. Die Angst vor den Entscheidungen der Bürger kann und darf in einer Demokratie nicht der Grund für eine bestimmte Auslegung der Verfassung sein. Parlament und Regierung müssen durch ihre Arbeit, besonders durch die Gesetzgebung, ohnehin rechtfertigen, dass sie und nicht das Volk entscheiden. Sie müssen sich der repräsentativen Demokratie würdig erweisen und nicht umgekehrt sich das Volk einer direkten Demokratie. Das Grundgesetz sollte nicht als Alibi dafür in Anspruch genommen werden, dass Gesetzgeber und Regierung diesen Beweis nicht erbringen müssen.
Auch jenseits methodisch fundierter Verfassungsauslegung werden starke sachliche Argumente gegen Volksentscheide vorgetragen. Kritiker sind oft Politikwissenschaftler, doch lassen sich ihre Argumente verfassungsrechtlich deuten. Erstens wird die hohe soziale Selektivität von Volksentscheiden bemängelt (die es in dieser Form etwa in der traditionell direktdemokratischen Schweiz nicht gebe): Mobilisiert werden die informierten, gebildeten, sozial bessergestellten Bevölkerungsschichten, die anderen, die schweigende Mehrheit, finden sich in der Entscheidung nicht repräsentiert. Daraus folgt zwanglos das zweite Argument: Wenn die Bürger keine Ahnung von dem haben, worüber sie abstimmen, kann dies nicht gut und auch nicht in ihrem Sinne sein – besser man lässt die direkte Demokratie bleiben. Die Therapie für solche Missstände liegt allerdings in Erziehung und Bildung. Gerade auch der staatliche Bildungsauftrag (besonders die Schulpflicht!) rechtfertigt sich mit der Erziehung zum demokratisch mündigen, politisch reflektierten Staatsbürger. Der Staat muss diese Aufgabe nach Möglichkeit erfüllen, anstatt den Bürgern zu unterstellen, sie seien eben noch demokratisch unmündig und politisch nicht ausreichend reflektiert. Drittens mag es Abnutzungseffekte geben: Wenn die Bürger häufig zur Entscheidung aufgerufen sind, verlieren sie die Lust an der Abstimmung. Die resultierende Entscheidung ist demokratisch schwach legitimiert. Das ist natürlich richtig. Doch schon die Wahlbeteiligung lässt oft zu wünschen übrig, und Wahlmüdigkeit ist eher eine Eigenschaft der Wähler als der Wahlen, die Fünf-Prozent-Klausel, die zur Vernachlässigung von Millionen abgegebener Stimmen führt (bei der Bundestagswahl im letzten September blieben deswegen 6,9 Millionen Zweitstimmen unberücksichtigt, das waren 15,7 Prozent der abgegebenen Stimmen), wird auf Bundesebene noch akzeptiert, und Gesetz oder Grundgesetz könnten außerdem Quoren einführen. Schließlich ist auch der Bundestag, wenn er über Gesetze beschließt, nicht immer stark besetzt – zur Not wird seine Beschlussfähigkeit fingiert (vgl. § 45 Abs. 2 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages). Viertens würden die Politiker angesichts bevorstehender Volksentscheide noch weiter zu Getriebenen der Demoskopie, sie stünden unter populistischem Druck, betrieben mehr Propaganda als inhaltliche Arbeit – so ließe sich ein weiterer Einwand gegen direkte Demokratie formulieren. Aber das ist das Problem der Politiker und nicht ihres Volks, des Souveräns. Außerdem könnte man die Anfälligkeit für unsachliche Entscheidungen auch an der Wurzel des Übels bekämpfen: etwa durch eine Relativierung der Macht der Parteien und die Umstellung auf ein Mehrheitswahlrecht. Fünftens könnten Volksentscheide undemokratischen „Volkstribunen“ in die Hände spielen. Von Theodor Heuss ist der Satz überliefert, Plebiszite seien eine „Prämie auf Demagogie“. Direktdemokratische Politik ist nach dieser Ansicht unsachlicher, als wenn sie durch mehr oder weniger professionelle Mandatsträger entschieden wird. Entscheidungen in Volksabstimmungen werden nach Tagesstimmung der abstimmenden Bevölkerungsmehrheit gefällt und könnten morgen schon ganz anders aussehen. Die Argumentationslinie erinnert an die wehrhafte Demokratie: Man muss die Demokratie vor sich selbst schützen – nur dass mit dem Schutz gegenüber Demagogen gleich auch der Souverän mit in Sippenhaft genommen und unter den Generalverdacht der Manipulierbarkeit gestellt wird. Das Argument knüpft an die genannte Kritik an, weite Teile der Bevölkerung seien nicht ausreichend informiert, um fundiert entscheiden zu können. Demagogen werden im Übrigen auch gewählt und entscheiden dann (im Bundestag) vier Jahre lang über Gesetze mit. Die Repräsentativität löst nicht alle Probleme demagogischer Demokratie auf.
Wie auch immer man die Sache dreht und wendet: Viele der Argumente gegen direkte Demokratie lassen sich auch in die umgekehrte Richtung wenden. Die Verfassung erlaubt und verbietet Volksentscheide auf Bundesebene nicht generell. Angesichts der Ambivalenz des grundgesetzlichen Wortlauts darf nicht die Bedeutung des Souveräns kleingeredet werden. Wenn man die Rede vom Volk als Souverän ernst nimmt, sollte man die Volkssouveränität nicht auf die Entscheidung über das Ende des Grundgesetzes reduzieren. Wer das tut, entmündigt den Souverän oder denkt den Souverän als potentiellen Revolutionär. Das Volk darf auch verbindlich über einen Verbleib Deutschlands in der Europäischen Union abstimmen – oder, weniger dramatisch: über die Annahme eines Änderungsvertrags der Europäischen Union. Es ist nicht weniger beunruhigend, diese Entscheidung in die Hand weniger Berufspolitiker zu legen. Demokratische Legitimation wird durch politische Professionalität nicht besser, und die grundlegenden Entscheidungen sind von Wertentscheidungen getragen, die sich nicht professionalisieren lassen.
Alleine schon durch den technischen Fortschritt werden weitere Zumutungen auf die repräsentative Demokratie zukommen. Dafür stehen die Begriffe „E-Democracy“ und „liquide“ Demokratie. Schon jetzt kann nicht nur täglich ein Plebiszit abgehalten werden, sondern augenblicklich. Verlangsamung bei grundsätzlichen Weichenstellungen tut dem politischen Prozess allerdings gut. Schließlich muss sich das Gesetz, das hergestellt werden soll, idealerweise über viele Jahre behaupten. Formen der Online-Beteiligung bergen in besonderer Weise die Gefahr, dass sich nur ein kleiner Kreis interessierter und informierter Bürger beteiligt. Die Repräsentativität der Bürgerbeteiligung wäre dann sehr unvollkommen. Solche spezifischen Öffnungen zur direkten Demokratie müssten sehr behutsam erfolgen.
Man sollte die Möglichkeit direkter Demokratie auf Bundesebene als verfassungsrechtliche Option in Erwägung ziehen. Ob sie im Einzelfall realisiert wird, hängt mangels grundgesetzlicher Verfahrensvorgaben bis zum heutigen Tage zunächst vom Gesetzgeber ab. Das ist nichts Ungewöhnliches. Auch für den Fall der Abstimmung über eine neue Verfassung (Art. 146 GG) fehlen gesetzliche Vorgaben – der Gesetzgeber müsste sie im Bedarfsfall schaffen. Ebenso ist – nach der dargestellten Minderheitsmeinung – der Bundesgesetzgeber zur Schaffung von Verfahrensregeln über Volksentscheide verpflichtet. Fraglich ist, von wem der verfassungsrechtlich relevante Impuls zu einer solchen Regelung ausgehen kann. Der Gesetzgeber hat ein gewisses Prae, den lange verschütteten Weg zu Volksentscheiden freizugeben. Er wäre darin nicht vollkommen frei. Zunächst müsste er überhaupt das Verfahren zur Verfügung stellen. Des Weiteren ist zum Beispiel die Bezifferung der Quoren für Volksentscheide dem Grundgesetz zwar nicht zu entnehmen, aber es gibt aus der Verfassung abzuleitende Grenzwerte, die den gesetzgeberischen Spielraum markieren. Eine schwierige Frage ist auch, unter welchen Voraussetzungen das Volk über einzelne Änderungen des Grundgesetzes entscheiden darf. Von der Position der Plebiszitbefürworter aus dürfte dies keine Frage sein. Wenn das Volk sich in freier Entscheidung eine neue Verfassung geben darf (Art. 146 GG), dann darf es – a maiore ad minus – auch einzelne Bestimmungen dieser Verfassung ändern. Die Plebiszitgegner könnten neben dem vermeintlichen Prinzip der Repräsentativität unserer Demokratie noch auf die Verfahrensvorschrift des Art. 79 Abs. 2 GG verweisen, die eine Beteiligung des Volks an Änderungen des Grundgesetzes nicht vorsieht, und auf die durch Art. 79 Abs. 3 GG selbst vor Verfassungsänderung geschützte grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung. Letztere wird bei Plebisziten durch die Beteiligung der Landesvölker sichergestellt.
Plebiszite haben sich auf Bundesebene nicht etwa deshalb verfassungsrechtlich erledigt, weil sie nie stattgefunden haben. Wie für das Mehrheitswahlrecht als echter Alternative zum Verhältniswahlrecht gilt, dass die direkte Demokratie, gut bewahrt im Grundgesetz, einen Dornröschenschlaf schläft.
II. Ausländerwahlrecht
Ausländer, die nicht auch deutsche Staatsbürger sind, haben nach der herrschenden Auslegung des Grundgesetzes kein Wahlrecht zum Bundestag. Art. 20 Abs. 2 GG meine mit dem Begriff „Volk“ nur das deutsche Volk. Diese auch durch den Bundeswahlgesetzgeber praktizierte Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung im Jahre 1990 bestätigt. Der Landesgesetzgeber von Schleswig-Holstein hatte das Wahlrecht bei Kommunalwahlen auch für ausländische Staatsbürger geöffnet. Das Gericht erklärte dies für unzulässig, weil das von ihm postulierte Junktim von Volk und deutscher Staatsangehörigkeit sowohl für die Bundesebene gelte (Art. 20 Abs. 2 GG) als auch aufgrund der gleichlautenden Formulierung des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG für die Vertretungen in den Gemeinden und Kreisen. Wegen des Homogenitätsgebots (Art. 28 Abs. 1 GG) ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine gleichsinnige Regelung des Wahlrechts bei den Landtagswahlen unausweichlich. Demnach dürfte es von Grundgesetz wegen auch in den Bundesländern kein Ausländerwahlrecht geben – weder der Landesgesetzgeber noch der Landesverfassungsgeber darf es einführen.
Dem Bundesverfassungsgericht wurde teilweise eine „völkische“ Interpretation des Grundgesetzes vorgehalten. Das Thema ist ideologisch und emotional stark besetzt – ein solcher Vorhalt ist aber auch polemisch übertrieben und wenig hilfreich. Das Grundgesetz selbst benutzt den Begriff „Volk“, und Demokratie ist Volksherrschaft. Dieser Begriff muss ausgelegt werden. Die Frage ist, warum es verfassungsrechtlich geboten sein sollte, ihn nur auf die deutschen Staatsbürger zu beziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1990 einen Weg gewiesen, der als Kompromiss verstanden werden darf: Zwar sei das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG ausschließlich das deutsche Volk; allerdings habe der Gesetzgeber Spielräume bei der Entscheidung über die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft. Das Gericht hat die Möglichkeit aufgezeigt, die Voraussetzungen für eine Einbürgerung zu senken. Der Gesetzgeber hat seit dem Jahr 2000 das Staatsangehörigkeitsrecht in diesem Sinne reformiert. Insoweit scheint der Weg über die Staatsangehörigkeit gangbar. Im Jahr 2014 hat der Bundesgesetzgeber sogar die Optionspflicht für in Deutschland aufgewachsene Kinder abgeschafft, die als Kinder unbefristet aufenthaltsberechtigter ausländischer Eltern durch Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hatten. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist für diese Gruppe der gesetzliche Normalfall.
Die stärksten Argumente des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung des Jahres 1990 sind systematischer Natur. Wenn das Grundgesetz an anderer Stelle vom Volk spricht, meint es das deutsche Volk. Folgerichtig seien ebenfalls sowohl Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG als auch Art. 20 Abs. 2 GG in diesem Sinne zu lesen, obwohl sie das Attribut „deutsch“ nicht enthalten. Die Präambel und Art. 146 GG sprechen deutlich vom deutschen Volk. Auch Art. 33 Ab. 1 und 2 GG stellen auf Deutsche ab, worauf das Gericht hinweist. Zu ergänzen ist, dass ebenfalls das in einer Tradition politischen Gebrauchs stehende Grundrecht der Versammlungsfreiheit nur Deutschen garantiert wird.
Die Argumentation des Gerichts ist nach Ansicht einiger Kritiker durch das kommunale Wahlrecht von EU-Bürgern obsolet geworden. Dieses Wahlrecht ist 1992 durch Art. 28 Abs. 1 S. 4 GG eingeführt worden. Diese Auffassung hat etwa die Staatsrechtslehrerin Ute Sacksofsky in einer abweichenden Meinung zu einer Entscheidung des Staatsgerichtshofs Bremen im Jahr 2014 vertreten. Der Bremer Landesgesetzgeber wollte die Wahlen zur Bürgerschaft (dem Landtag) für EU-Bürger und die Wahlen zu den Beiräten der Stadtgemeinde Bremen für Ausländer generell öffnen. Die Mehrheit der Richter hielt an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1990 fest. Das ist immer noch vertretbar. Man kann wohl auf die vom Unionsrecht geforderte Verfassungsänderung keine generelle Neuausrichtung der Auslegung des Grundgesetzes stützen, zumal das Wahlrecht ja ausdrücklich auf EU-Bürger und auf Kommunalwahlen beschränkt wird.
Die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts ist fundiert, tradiert und schafft Rechtssicherheit. Aus dem Geist des Nationalstaats heraus war zu früheren Zeiten auch keine andere Auslegung denkbar. Man kann alles aber auch ganz anders sehen. Der Schlüssel zu einer anderen Auslegung steckt in einer inhaltlich gefüllten oder substantiellen Auffassung des Demokratieprinzips. Demokratie kann nicht nur als Herrschafts- oder Organisationsform, also formal-organisatorisch, verstanden werden, sondern als wertsetzende Entscheidung mit inhaltlichen Maßgaben für die Staatsorganisation. Der amtierende Bundesverfassungsrichter Johannes Masing hat sich schon 2001 in dem Sinne geäußert, dass Demokratie die Herrschaft der Betroffenen ist (Betroffenendemokratie). Diese demokratietheoretische Interpretation hat er ausdrücklich auf das Grundgesetz bezogen. Die Adressaten der Gesetze sollen deren Autoren sein (Jürgen Habermas). Vorausgesetzt wird nur eine ausreichend lange Dauer des Aufenthalts in Deutschland. Der Hinweis auf die Demokratie als Betroffenendemokratie ist ein starkes Argument für die Auslegung des Begriffs „Volk“ in Art. 20 Abs. 2 GG. Demokratie ist dann nicht nur ein formales Organisationsprinzip eines Staates, dessen Volk durch der Verfassung vorausgelagerte Traditionen, ethnisch-religiöse und andere Bindungen bestimmt wird, sondern Demokratie ist ein inhaltlich besetztes Prinzip, ein „wertbildender“ Faktor, der mit über den Kreis derjenigen entscheidet, die zum Volk gehören.
Es fällt schwer, sich diesem „materialen Demokratiebegriff“ zu entziehen. Er betont auch die Verbindung zwischen Demokratieprinzip einerseits und der Gleichheit, die in Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr an das Deutschsein anknüpft (wie noch in der Weimarer Reichsverfassung), sowie der Menschenwürde andererseits. Auf beidem baut nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die freiheitliche demokratische Grundordnung auf. Freiheit, Gleichheit und Demokratie sind ein Dreiklang des Grundgesetzes. In ihrer Betroffenheit durch die deutsche Staatsgewalt sind die Menschen gleich, also sollen sie auch in ihrer Mitwirkung an der Ausübung dieser Staatsgewalt gleich sein. Das Gebot der Mitwirkung und die Gleichheit sind Ausfluss der Menschenwürde. Mit der Gleichheit und der Menschenwürde hat man zwei Begründungsstränge erreicht, die den nationalstaatlichen Habitus der Verfassung transzendieren. Gleichzeitig wird durch diese Verbindungslinie der Demokratie deren unentrinnbare Verschränkung mit inhaltlichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes augenfällig. Ebenso wenig, wie die individuelle Freiheit eine „Organisationsform“ des Individuums ist, dürfte Demokratie sich in einer Organisationsregelung erschöpfen – sie befördert die Versöhnung von individueller Freiheit und Gleichheit auf eine höhere Ebene.
An der Argumentation des Gerichts aus dem Jahre 1990 ließe sich auch trotz des inzwischen erhöhten Anteils an Ausländern in Deutschland noch festhalten, denn für diese Entwicklung hat das Gericht bereits vorsorglich den Weg einer erleichterten Einbürgerung gewiesen. Eine andere Tendenz in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hat in der Zwischenzeit allerdings Fahrt aufgenommen. Das Demokratieprinzip wird in den Entscheidungen zur Integration in die Europäische Union inhaltlich mit der Staatlichkeit verbunden, um die Grenze einer Einbindung Deutschlands in die Union zu markieren. Das lässt sich an der Maastricht-Entscheidung (des Jahres 1993) und der Lissabon-Entscheidung (im Jahr 2010) ablesen. Ich fasse diese Synthese in eigenen Worten zusammen: Die Demokratie lebt vom gegenseitigen Austausch, von der Diskursgemeinschaft, von der gemeinsamen Öffentlichkeit. Daher stehe das Demokratieprinzip einer Auflösung der Staatlichkeit entgegen, infolge derer die Grundlagen dieser Diskursgemeinschaft und Öffentlichkeit nicht mehr gesichert werden können (garantiert werden können sie ja nach dem bekannten Böckenförde-Diktum ohnehin nicht). Offenbar soll die deutsche Staatlichkeit um eines Volkes willen geschützt werden, das zu einer Diskursgemeinschaft und Öffentlichkeit zusammengewachsen ist. Damit „substantialisiert“ man das Demokratieprinzip, aber eben auf andere Weise, als es das Konzept der Betroffenendemokratie tut. Beides lässt sich auf den ersten Blick nicht konfliktfrei miteinander vereinbaren.
Gegen die Betroffenendemokratie spricht zunächst, wenn aus der angeblich vorrechtlich entstandenen Gemeinschaft Staat abzuleiten sein sollte, wer Staatsbürger ist. Die Verbindung von Staat und Staatsbürger ist selbstverständlich besonders eng: Bestimmte Rechte und Pflichten folgen aus dem staatsbürgerlichen Status. Allerdings sind klassische „staatstragende“ Pflichten in Deutschland von der Staatsbürgerschaft losgelöst: Steuern zahlen nicht nur die deutschen Staatsbürger; die Wehrpflicht, die zur Zeit gesetzlich ausgesetzt ist, knüpfte weder verfassungsrechtlich noch gesetzlich ausschließlich an die deutsche Staatsangehörigkeit an, vielmehr war auch wehrpflichtig, wer seinen ständigen Aufenthalt in Deutschland hatte. Hinzu kommt, dass die enge Verbindung zwischen Staat und Staatsbürger einfach eine Rechtsfolge des Status der Staatsbürgerschaft ist und nicht an eine vorrechtliche Verbundenheit (etwa an eine Abstammungsgemeinschaft) anknüpft. Der deutsche Gesetzgeber hat auch das Staatsangehörigkeitsrecht vom nationalstaatlichen Leitbild emanzipiert, indem er dem Abstammungsprinzip Elemente des Geburtslandsprinzips hinzufügte. Von der Staatsangehörigkeit kann heute nicht mehr eindeutig auf vorrechtliche Zusammenhänge zwischen Bürger und Staat geschlossen werden. Hier zeigt sich eine gewisse Formalisierung der Staatsangehörigkeit, der das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidung des Jahres 1990 den Weg geebnet hat.
Das kann allerdings – entgegen den Vorannahmen, die das Gericht wohl 1990 zugrunde legte – nicht ohne Konsequenzen für die Auslegung des Demokratieprinzips bleiben. Denn je mehr sich die Staatsangehörigkeit zu einer Verbandszugehörigkeit formalisiert, desto größer ist das Bedürfnis, der Verfassung auch einen Kompass für inhaltliche Voraussetzungen von Staatsangehörigkeit und Einbürgerung zu entnehmen. Das Konzept der Betroffenendemokratie macht ein solches Angebot.
Die Bedeutung der Betroffenendemokratie kommt nach meiner Auffassung erst mittelbar zum Tragen. Denn tatsächlich dürfte es schwierig sein, die Verfassung so zu lesen, dass das Volk ipso iure die (dauerhaft) der Staatsgewalt unterworfenen Personen sind. Eine formale Feststellung dieses Status in Gestalt der Staatsangehörigkeit ist für die Rechtssicherheit wesentlich. Sonst „zerbröselt“ das Staatsvolk (so Böckenförde gegen die Betroffenendemokratie). Die Vorschriften, die ausdrücklich an das Deutschsein anknüpfen (vor allem Präambel, Art. 8, Art. 33, Art. 146 GG) haben einen so engen Bezug zum Staat, dass es wirklich naheliegt, auch in Art. 20 Abs. 2 GG das Volk als das Volk der Deutschen zu verstehen. Der Gesetzgeber entscheidet mit der Ausformung der Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit über die (mögliche) Zusammensetzung des deutschen Volks. Nun kommt die verfassungsrechtliche Maßgabe der Betroffenendemokratie zum Tragen, denjenigen die deutsche Staatsangehörigkeit zugänglich zu machen, die dauerhaft von deutscher Staatsgewalt betroffen werden. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber weder ganz frei ist in seiner Entscheidung über die Ausformung der Voraussetzungen einer Einbürgerung noch durch Art. 116 GG und einen materiellen Begriff des „Deutschseins“ gebunden wird. Das Demokratieverständnis gibt den Ausschlag.
Der verfassungsrechtliche Rang der Betroffenendemokratie ist umstritten. Die Gretchenfrage ist und bleibt, ob Demokratie die Staatsform der Deutschen ist oder ob – wegen der Demokratie – alle, die dauerhaft unter deutscher Hoheitsgewalt leben, das Staatsvolk sind. Ist Demokratie ein Attribut, eine Zutat ein Akzidenz unserer Staates oder ist sie eine Wurzel, ein Bestimmungsgrund für Staat und Staatsvolk? Hier könnte es einen grundsätzlichen Wandel in der Gesellschaft dadurch gegeben haben, dass das Abstammungsprinzip nicht mehr die Bedeutung hat, die ihm in früheren Zeiten eingeräumt worden ist. Damit verliert das Staatsvolk an „Selbststand“ und die Demokratie gewinnt inhaltliche Bedeutung. Denn der demokratische Prozess wird zu der Rückkoppelungsschleife, in der sich das Staatsvolk selbst definiert und bestätigt. Angesichts der fundamentalen Bedeutung dieser Frage für Staatlichkeit und Gemeinwohl sollte sich die neue inhaltliche Bedeutung der Demokratie auch verfassungsrechtlich niederschlagen – wenn es erforderlich sein sollte, müsste man hier einen Verfassungswandel annehmen.
Diese staats- und verfassungsrechtliche Fragestellung berührt das Verhältnis von Recht und Staat, von Verfassung und Verfassungsvoraussetzung, von dienender und kontrafaktischer Funktion des Rechts. Ist das Demokratieprinzip ein Organisationsprinzip für eine vorrechtlich definierte staatliche Gemeinschaft? Knüpfen die rechtlichen Anforderungen des Demokratieprinzips an Voraussetzungen (ein Staatsvolk) an, die vom Demokratieprinzip selbst nicht mitbestimmt werden? Bis zu welchem Punkt soll das Verfassungsrecht „kontrafaktisch“ Zustände konservieren und ab wann soll es einen gesellschaftlichen Wandel durch Verfassungswandel nachvollziehen? Wenn man sich von diesen Rechtsfragen einmal löst und eine soziologische Vogelperspektive einnimmt, spiegelt die juristische Auseinandersetzung um die Frage, wer das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG ist, die alte Diskussion wieder, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist. Inzwischen wissen wir das nicht nur, sondern sagen es auch.
Die Frage, wer das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG ist, ist fundamental und umstritten. Die Argumente für die Betroffenendemokratie sind stark – jedenfalls viel stärker, als die Position, die sie in der Meinungslandschaft zur Auslegung des Grundgesetzes einnimmt. Es ist auch nicht abwegig, die Betroffenendemokratie im Demokratieprinzip des Grundgesetzes angelegt zu sehen. Vielleicht kommt sie auch erst durch einen Verfassungswandel zum Tragen – nämlich durch den allmählichen Bedeutungsverlust der Abstammungsgemeinschaft (sofern diese Bedeutung nicht ohnehin früher schon überschätzt worden ist). Nach dieser Auffassung würde das „Volk“ im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG auch Ausländer einschließen, wenn sie nur lange genug in Deutschland leben. Aber gerade auch eine Auslegung des Grundgesetzes, welche die Betroffenendemokratie als maßgeblich für die Bestimmung des deutschen Volks erachtet, ist zumindest vertretbar. Die Betroffenendemokratie wäre dann ein Auftrag an den Gesetzgeber der Staatsangehörigkeit. Fraglich ist, ob man beide Deutungen (deutsches Volk oder Betroffenendemokratie) als gleichzeitig bestehende, aber einander ausschließende Optionen im Grundgesetz angelegt sieht, zwischen denen der Gesetzgeber wählen darf. Dann wäre es keine Verfassungsfrage mehr, sondern es stünde dem Gesetzgeber offen, ob er von einem verfassungsrechtlichen Deutschenbegriff ausgeht oder sich dem Diktat der Betroffenendemokratie beugt. Diese Frage sollte aber nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehen. Dafür ist sie zu wichtig. Sie betrifft unmittelbar den pouvoir constituant. Der Gesetzgeber würde den Kreis derer, die ihn wählen stark erweitern bzw. verkleinern können. Eine solche Frage muss als verfassungsfeste Rahmenbedingung im Grundgesetz verankert sein. Man muss erkennen, dass der Streit zweier einander ausschließender Auffassungen über die Spielräume des Gesetzgebers nicht automatisch bedeutet, dass der Gesetzgeber einen solchen Spielraum hat. Vielmehr gilt auch hier, dass auf der Ebene des Verfassungsrechts alles auch ganz anders gesehen werden darf, als es die (noch) herrschende Meinung tut.
III. Gebot einer ununterbrochenen Legitimationskette
Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und sie in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Das versteht die ganz herrschende Meinung so, dass es eine ununterbrochene „Legitimationskette“ zwischen der Entscheidung des Souveräns, also des Volks, und der Machtausübung gegenüber dem Bürger geben muss.
Das Modell geht auf Ernst-Wolfgang Böckenförde zurück und wurde während dessen Zeit als Richter am Bundesverfassungsgericht vom Gericht aufgegriffen. Es besagt, dass die demokratische Legitimation organisatorisch-personell und sachlich-inhaltlich erfolgt. Organisatorisch-personell ist sie, indem jeder Akt der Ernennung eines Staatsdieners, der staatliche Gewalt ausübt, sich auf den Wahlakt des Staatsvolkes zurückführen lassen muss, also durch das Parlament und die Regierung vermittelt werden muss. Sachlich-inhaltlich ist die demokratische Legitimation, insofern die Staatsgewalt auch inhaltlich durch den Wählerwillen gebunden bzw. gelenkt wird, indem nämlich das unmittelbar vom Volk gewählte Parlament durch Gesetz steuert, die Verwaltung das Gesetz nachvollzieht, die vorgeordneten Verwaltungsstellen Weisungen geben, was zu tun ist, und kontrollieren, was die nachgeordneten Stellen tatsächlich tun, und indem Gerichte die Gesetzesbindung überwachen. Idealerweise wird die Staatsgewalt durch beide Stränge legitimiert, doch hat das Bundesverfassungsgericht akzeptiert, dass Defizite des einen Legitimationsstrangs durch besondere Rückbindungen innerhalb des anderen Strangs kompensiert werden dürfen, so dass nur insgesamt, aber immerhin ein ausreichendes bzw. effektives Legitimationsniveau bestehen muss.
Alternativlos ist dieses Modell nicht. Es hat zudem einige Schwachstellen, und offene Fragen bleiben.
Die wohl größte Schwachstelle ist die schwache Bindekraft des Gesetzes, namentlich des zwingend in Sprache gefassten Gesetzeswortlauts. Die Auslegung entfernt sich vom Willen des Gesetzgebers, Worte können nicht zweifelsfrei-eindeutig binden, und die Bedeutung des Wortlauts ist eine Konvention, die nicht vom Gesetzgeber festgelegt wird und sich wandeln kann. Diese Einsicht ist bereits bis zur Frage der Gesetzesbindung des Richters durchgedrungen (vgl. besonders die Arbeiten von Ralph Christensen und die von Friedrich Müller entwickelte Theorie der Normkonkretisierung). Man mag von einem linguistic turn in der Rechtswissenschaft sprechen. Einzelne Problemstellungen laufen letztlich auf dieselbe Grundsatzfrage nach der Bindungskraft des gesetzlichen Wortlauts hinaus, ohne dass dies in der jeweiligen Problemdiskussion immer hinreichend deutlich wird. Das gilt etwa für den Beurteilungsspielraum der Verwaltung und die objektiv-teleologische Auslegung. Die mit dem Thema Gesetzesbindung verwandte Frage nach dem (gerichtsfesten) Beurteilungsspielraum der Verwaltung bei der Auslegung des Gesetzes geht von der Unbestimmtheit des Wortlauts aus, sieht darin aber kein umfassendes Phänomen wie der linguistic turn. Die Frage des Beurteilungsspielraums wird ganz überwiegend als ein Problem der Zuständigkeitsverteilung zwischen Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichten eigeordnet: Der Gesetzgeber ermächtigt die Verwaltung zur Ausübung des Beurteilungsspielraums gegenüber den Gerichten. Dieser legitimatorische Kunstgriff schließt aber nicht aus, dass der ermächtigende Gesetzgeber prinzipiell zu schwach ist, überhaupt inhaltliche Bindungen vorzugeben. Das zeigt sich erst recht bei Ermessensspielräumen der Verwaltung – das sogenannte Regulierungsermessen verlangt der Verwaltung sogar gesetzesähnliche Wertentscheidungen ab. Die Methode der Gesetzesauslegung ist ein weiterer Beleg für die Volatilität des auszulegenden Gesetzestextes. Die objektiv-teleologische Auslegung fragt nicht nach dem Willen des historischen Gesetzgebers, sondern nach dem vernünftigen und verfassungskonformen Gesetzeszweck. Die Kritik pointiert: Der subjektive Wille des Interpreten wird zum objektiven Zweck des Gesetzes (Jörg Lücke). Diese Zuspitzung ist nicht die ganze Wahrheit, weil die objektiv-teleologische Auslegung das Gesetz in den Rahmen der gesamten Rechtsordnung zu stellen versucht, mithin nicht unbedingte selektive Willkür betreibt. In dürren Worten: Die Bindung an das Gesetz, die das Fundament für die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation bildet, ist zumindest brüchig, für viele sogar nur eine Fiktion.
Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt wichtige Fragen zu den Legitimationsketten (noch) offen: Inwieweit kann ein Legitimationsstrang den anderen vollständig ersetzen? Ist die funktionale Selbstverwaltung (durch die Kammern der freien Berufe, Industrie- und Handelskammern, Wasserverbände etc.) wegen ihrer Entkoppelung vom Volkswillen auf diejenigen Erscheinungsformen begrenzt, die bereits 1949 bestanden haben, oder kann der Gesetzgeber darüber hinaus neuartige korporative Strukturen mit autonomer Legitimation schaffen? Das Bundesverfassungsgericht hat sich in der wegweisenden Entscheidung zu den Wasserverbänden im Jahr 2002 ambivalent geäußert, indem es einerseits auf die autonome Legitimation, andererseits auf die im Grundgesetz anerkannten Fälle von Selbstverwaltung abstellte.
Schließlich ist das Modell ununterbrochener Legitimationsketten nicht alternativlos. Erstens sieht das Grundgesetz selbst Ausnahmen vor, die als ministerialfreie Räume bezeichnet werden. Zweitens wirkt das Recht der Europäischen Union kraft seines Anwendungsvorrangs in das nationale Recht ein. Das wurde besonders an der von einer EU-Richtlinie geforderten und vom EuGH weit ausgelegten Unabhängigkeit der Datenschutzbeauftragten deutlich. Deren organisatorisch-personelle Legitimation ist von Unionsrechts wegen stark reduziert. Drittens kennen andere demokratische Staaten Legitimationsmodelle, die nicht so eng am Kettendenken hängen. Viertens und schließlich hat das Bundesverfassungsgericht nahezu 30 Jahre lang, während auch der Art. 20 Abs. 2 GG galt, die Kettenlogik nicht gekannt.
Die Macht der Metapher lässt vergessen, dass es auch eine andere Auslegung des Demokratieprinzips gab. Dafür steht die Kalkar I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts des Jahres 1978. Das Gericht betonte die verfassungsunmittelbare Institution und Funktion der Exekutive und lehnte einen ausnahmslosen Vorrang des Parlaments gegenüber den anderen Gewalten ab. Das Gericht operiert hier mit eigenständigen Kompetenzen von Regierung und Verwaltung, die auch dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen seien. Das wird auch von Böckenförde anerkannt, wenn er auf die funktionelle bzw. institutionelle demokratische Legitimation verweist. Wenn man die Gewaltenteilung, die auch in Art. 20 Abs. 2 GG enthalten ist, stärker hervorhebt, herrscht eher ein Gleichgewicht gegenseitiger Kontrolle als der „Gewaltenmonismus“ der Legitimationsketten. Das Prinzip des Gleichgewichts ist tendenziell gegenläufig zu der monistischen Ableitung von Legitimation, die dem Parlament ein starkes Übergewicht einräumt.
Ein „Totalvorbehalt“ des Gesetzes – auch jenseits der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte und damit unterhalb der grundrechtlichen Eingriffsschwellen – hat sich nicht durchgesetzt. Offenbar gibt es einen Raum für Verwaltungskompetenzen, der nur durch den Vorrang des Gesetzes begrenzt wird und der nicht durch den Gesetzgeber erschlossen werden muss. Das trifft auf den Bereich der Leistungsverwaltung zu, in dem die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, wenn überhaupt, so nur schwach wirken. Die Frage wird ferner virulent, wenn es um eine Kompetenz der Verwaltung zur Verordnungsgebung ohne gesetzliche Ermächtigung geht. Des weiteren ist der Gesetzgeber, durch die Beschränkung auf die Handlungsform des allgemeinen Gesetzes, in seinem Zugriffsrecht auf den Einzelfall limitiert. Neben den Ketten kommt es daher entscheidend auf die Fähigkeiten und Absichten der Verwaltung an, die das Gesetz umzusetzen hat. Das wäre die Botschaft einer stärkeren Betonung des Eigengewichts von Verwaltung, Regierung und Rechtsprechung gegenüber dem Parlament.
Unter diesen Prämissen wäre die funktionale Selbstverwaltung weiter ausbaufähig. Der Gesetzgeber dürfte folgende Änderungen vornehmen: Die Angehörigen weiterer Berufsgruppen könnten zu Kammern mit Selbstverwaltung zusammengefasst werden; die Kaufleute eines Stadtviertels dürften zu Zwangskörperschaften verbunden werden (wie bei den business improvement districts). Die Beleihung Privater mit Hoheitsgewalt wäre weniger problematisch, solange nicht der Funktionsvorbehalt des Beamtentums (Art. 33 Abs. 4 GG) beeinträchtigt wird. Die Relativierung des Erfordernisses einer Legitimationskette durch das Gleichgewicht der Staatsgewalten öffnet neue Spielräume. Gewaltenteilung würde Kettenlücken kompensieren.
C. Alles könnte auch ganz anders sein
Die Bundesbürger entscheiden wichtige Fragen per Plebiszit. Ausländer, die seit mindestens zehn Jahren ununterbrochen in Deutschland leben, dürfen mitabstimmen und den Bundestag mitwählen. Funktionale Selbstverwaltung löst unmittelbare Staatsverwaltung in vielen Bereichen ab, und weisungsfreie öffentlich-rechtliche Stellen schützen die Interessen der Bürger. In einem Satz gesagt: Vieles, ja Bedeutendes in Sachen Demokratie dürfte auch anders sein als jetzt. Das Grundgesetz erlaubt eine andere Konfiguration der Demokratie als diejenige, an die wir uns gewöhnt haben. Man muss deswegen nichts ändern. Diese Ausführungen sind kein Appell zur Reform der Demokratie in ihrer gegenwärtigen Gestalt. Es geht vielmehr nur darum, die verfassungsrechtlichen Spielräume aufzuzeigen. Man darf das Grundgesetz nicht für die Pfadabhängigkeit der deutschen Demokratie in Anspruch nehmen. Im Gegenteil hält das Grundgesetz die Demokratie für neue Pfade offen. Das ist die Stärke einer Rahmenordnung. Unter dem Dach desselben Verfassungsprinzips können vom Gesetzgeber Konkretisierungen verwirklicht werden, die sich gegenseitig ausschließen. Das ist eine gerade auch für das Demokratieprinzip bekannte Tatsache: So mag der Bundestag weiterhin streng nach dem System der Verhältniswahl gewählt werden oder aber – was eine Innovation wäre – nach dem Prinzip der Mehrheitswahl.
Die Möglichkeit, dass alles ganz anders sein dürfte, sollte nicht unterschätzt werden. Das Grundgesetz ist eine Rahmenordnung, die solche Spielräume lässt. Die Demokratie, die wir kennen, muss nicht schon mit all ihren vertrauten Eigenschaften unter Denkmalschutz stehen. Sie lebt und bewegt sich, das Grundgesetz lässt ihr Luft zum Atmen. Die Deutungsvarianten sollten auch kein Geheimwissen sein. Gerade weil unsere Verfassung demokratisch ist, werden wir alle von ihr angesprochen und sollten dann auch wissen, was sie meint. Der für die Demokratie essentielle gesellschaftlich-politische Diskurs muss die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten kennen. Eine Erkenntnis muss sein, dass der Hinweis auf das Verfassungsrecht in vielen Fällen nicht entlastet. Vielmehr lässt das Verfassungsrecht wichtige Weichenstellungen offen. Das bedeutet, dass sie im politischen Prozess ausgehandelt und gerechtfertigt werden müssen.